zurück
Meldungen

Design gegen das Kippen

Teilen
  • 10.11.2025
  • Quelle: Redaktion

Korallensterben, andere Kipppunkte und die Rolle von Design

Fachbeitrag von Ursula Tischner, Prof. für Nachhaltiges Design, Wilhelm Büchner Hochschule

Unsere Erde ist ein komplexes System, das von unzähligen Prozessen und Kreisläufen geprägt wird. Doch dieses System hat seine planetaren Grenzen. Wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, können sich Prozesse unaufhaltsam beschleunigen und zu weitreichenden, oft irreversiblen Veränderungen führen. Diese kritischen Schwellen werden als Kipppunkte oder „No-Return-Punkte“ bezeichnet. Wie beim Dominoeffekt gilt hier: Ist der erste Stein gefallen, folgen alle anderen unweigerlich.
Die Hauptursache dieser Phänomene ist derzeit der globale menschengemachte Klimawandel, also die Erderwärmung. Das großflächige Absterben von Korallenriffen markiert, laut einem neuen Bericht von 160 Forschenden, den weltweit ersten Klimakipppunkt, der bereits erreicht wurde[1].
Wenn die Meerestemperaturen über einen längeren Zeitraum zu hoch sind – oft nur 1 bis 2 °C über dem saisonalen Durchschnitt – stoßen die Korallen die symbiotischen Algen (Zooxanthellen) ab, die in ihrem Gewebe leben und ihnen Farbe und einen Großteil ihrer Energie liefern. Ohne diese Algen verhungern die Korallen und werden weiß, was als Korallenbleiche bezeichnet wird. Wenn der Hitze-Stress zu groß und zu lang anhaltend ist, stirbt die Koralle ab und das gesamte Riff kann kollabieren.
Ein weiterer kritischer Faktor ist die Ozeanversauerung. Die Ozeane absorbieren einen erheblichen Teil des in der Atmosphäre befindlichen Kohlendioxids (CO2). Dieses CO2 reagiert im Wasser und bildet Kohlensäure (H2CO3), was den pH-Wert des Meerwassers senkt. Ein sinkender pH-Wert erschwert es Korallen und anderen kalkbildenden Organismen, ihre Skelette oder Schalen aus Kalziumkarbonat aufzubauen.
Dabei sind Korallenriffe die „Regenwälder der Meere“ – Hotspots der Biodiversität, die schätzungsweise 25% aller Meereslebewesen beherbergen, obwohl sie weniger als 0,1% der Meeresfläche bedecken. Sie schützen Küsten vor Erosion, sind die Grundlage für die Fischerei und bieten Lebensgrundlage für Millionen von Menschen. Die Kombination aus steigenden Temperaturen und Ozeanversauerung treibt die Korallenriffe unaufhaltsam über ihren Kipppunkt hinaus. Ganze Ökosysteme verschwinden, mit kaskadierenden Effekten für die Artenvielfalt und die Küstenbevölkerung.

Welche weiteren Kipppunkte gibt es?
Beispiele für weitere Kipppunkte, die womöglich bereits erreicht sind oder denen wir gefährlich nahe kommen, sind das Abschmelzen des arktischen Meereises und des Grönländischen Eisschildes, das Auftauen des Permafrosts mit der Freisetzung großer Mengen Methans oder das Absterben des Amazonas-Regenwaldes. Die Konsequenzen solcher Kipppunkte sind global und tiefgreifend. Durch das Abschmelzen der Eisschilde erhöht sich der Meeresspeigel mit katastrophalen Folgen für Küstenregionen. Durch das Einbringen von Süßwasser in die Ozeane können die Meeresströmungen im Atlantik abgeschwächt werden, die Wärme nach Europa und Nordamerika bringen. Eine starke Abkühlung in Teilen Europas und Nordamerikas und massive Veränderungen der Wettermuster weltweit wären die Folge usw.

Und was hat das nun mit Design zu tun?
Designer:innen sind Problemlöser. Sie gestalten die Welt, in der wir leben – von den Produkten, die wir nutzen, über die Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, bis hin zu den Räumen, in denen wir uns bewegen und den Informationen, die wir konsumieren. Ihre Arbeit beeinflusst unser Verhalten, unsere Wahrnehmung und unsere Interaktion mit der Umwelt. Angesichts der Dringlichkeit durch die drohenden Kipppunkte können Designschaffende keine passive Beobachterrolle einnehmen; sie sind vielmehr Agent:innen des Wandels, die mit ihrer Kreativität und ihrem systemischen Denken transformative Lösungen entwickeln können.
Es geht also primär darum, den Klimawandel aufzuhalten und die nicht mehr vermeidbaren Folgen abzuschwächen oder ihnen entgegenzuwirken (Climate Change: Mitigation and Adaptation).

Was Designer:innen tun können: Strategien und Ansätze
Jenseits der direkten Beeinflussung von Produktentwicklungen, d.h. ressourcensparenden und kreislauffähigen Enwürfen, können Designer:innen bei der Klimawandel-Mitigation und -Adaptation eine wesentliche Rolle spielen. Alles, was hilft, den Klimawandel zu verlangsamen und zu verhindern ist gefragt: Erneuerbare Energieinfrastruktur, Energieeffizienz, Mobilitäts- und Ernährungswende ebenso wie Technologien zur Vermeidung, Bindung und Speicherung von Klimagasen (CO2, Methan etc.).
Gleichzeitig können innovative Lösungen gegen die Effekte der Kipppunkte gestaltet werden, wie künstliche, 3D gedruckte Korallenstrukturen im Meer als Unterstützung der marinen Ökosysteme. „Blaue“ und „grüne“ Infrastruktur in Städten und Küstenbereichen können so entworfen werden, dass sie widerstandsfähiger gegen den Klimawandel sind, z.B. durch die Renaturierung von Mangrovenwäldern, die auch als natürliche Wellenbrecher dienen, oder das Schaffen von Grünflächen, die Hitzeinseln reduzieren.
Künstliche Intelligenz kann helfen, beim Voraussagen der Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die Ökosysteme und beim Entwickeln von komplexeren systemischen Lösungen. Hier wäre sie wirklich sinnvoll eingesetzt.
Im Bereich des Kommunikationsdesigns wird Datenvisualisierung und Storytelling dringend gebraucht:
Komplexe wissenschaftliche Daten über Kipppunkte und ihre Auswirkungen – wie z.B. für das Korallensterben - müssen auch für Laien verständlich und emotional ansprechend aufbereitet werden und es sollten Narrative entwickelt werden, die nicht nur die Bedrohung, sondern auch die Schönheit der Natur und positive Handlungsoptionen hervorheben.

Hochschulen sollten solche wichtigen Herausforderungen thematisieren und Lösungen entwickeln in vielen Fachbereichen und nicht zuletzt auch im Designstudium. Ein Beispiel für einen solchen Studiengang ist der Bachelorstudiengang Nachhaltiges Industrie- und Produktdesign der Wilhelm Büchner Hochschule, mit seinen Studienrichtungen Nachhaltiges Design und Industriedesign. Hier lernen Studierende genau solche Zusammenhänge kennen und wenden Methoden und Werkzeuge an, um nachhaltigere Lösungen zu gestalten, die dem Klimawandel und weiteren Herausforderungen der Menschheit (Biodiversitätskrise, Ressourcenverknappung, soziale Ungerechtigkeit …) begegnen können.

Die großen Krisen unserer Zeit erfordern nicht nur wissenschaftliche Forschung und politische Maßnahmen, sondern auch einen fundamentalen Wandel in unseren Denkweisen und Gestaltungspraktiken. Designer:innen sind keine bloßen Ästhet:innen; sie sind strategisch Denkende, Empathie-Träger:innen und Systemversteher:innen. Ihre Fähigkeit, komplexe Probleme zu analysieren, innovative Lösungen zu entwickeln und Menschen zum Handeln zu bewegen, macht sie zu unverzichtbaren Akteur:innen im Kampf gegen die Klimakrise und für eine nachhaltigere Zukunft.

Ursula Tischner, Prof. Nachhaltiges Design
Wilhelm Büchner Hochschule

Bild-/Fotonachweise:
Grafik: Räumliche Verteilung der globalen und regionalen Kippelemente. Die Farben bezeichnen den Temperaturbereich, in dem ein Kippen wahrscheinlich wird. Quelle: Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, PIK (CC-BY Lizenz)

Legende:
[1] Lenton, T. M., Milkoreit, M., Willcock, S., Abrams, J. F., Armstrong McKay, D. I., Buxton, J. E., Donges, J. F., Loriani, S., Wunderling, N., Alkemade, F., Barrett, M., Constantino, S., Powell, T., Smith, S. R., Boulton, C. A., Pinho, P., Dijkstra, H. A. Pearce-Kelly, P., Roman-Cuesta, R. M., Dennis, D. (eds), 2025, The Global Tipping Points Report 2025. University of Exeter, Exeter, UK. ©The Global Tipping Points Report 2025, University of Exeter, UK.

Impressionen

  • francesco ungaro MJ1Q7hHeGlA unsplash1600x800
    Artenvielfalt in Korallenriffen — © francesco-ungaro-MJ1Q7hHeGlA-unsplash
  • HIHWNMS   bleaching 273671251231600x800s
    Korallenbleiche - Kipppunkte eines wesentlichen Unterwassersystems — © National Marine Sanctuaries
  • catrin johnson m22k ahUJsg unsplash corallenbleiche1600x800
    Korallenbleiche stellt einen Kipppunkt für das System Meer dar — © catrin-johnson-m22k_ahUJsg-unsplash
  • Bild4grafik1600x800
    Verteilung der globalen Kippelemente / Temperaturbereiche, wo Kippen wahrscheinlich wird — © Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, PIK (CC-BY Lizenz)
  • Alung Banua EcoReefs coral colony1600x800transplant
    Alung-Banua-EcoReefs-coral-colony - Installation eines künstlichen Korallenriffs in Indonesien — © Arnaz Mehta/Mark Erdman, Seacology USA (CC-BY Lizenz)
  • hiroko yoshii 9y7y26C l4Y unsplash1600x800
    Noch intaktes Korallenriff — © Hiroko Yoshii-9y7y26C-l4Y-unsplash

Abonniere den VDID Newsletter

Trage Deine E-Mail-Adresse hier ein, um den VDID Newsletter zu abonnieren.

Meine Einwilligung kann ich jederzeit per Mail an newsletter@vdid.de oder per Link in den Newsletter widerrufen.

Für den Versand unserer Newsletter nutzen wir rapidmail. Mit Ihrer Anmeldung stimmen Sie zu, dass die eingegebenen Daten an rapidmail übermittelt werden. Beachten Sie bitte deren AGB und Datenschutzbestimmungen .

VDID Logo rgb3x