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Digitale Industrialisierung – Zurück in die Zukunft

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  • 04.07.2025
  • Quelle: Redaktion

Wir befinden uns in einer Ära rasanten technischen Wandels, in der sich durch maschinelles Lernen, Vernetzung und die Verarbeitung großer Datenmengen fortlaufend neue Möglichkeiten und Herausforderungen offenbaren. Das Design des Digitalen befindet sich – ähnlich wie das Industriedesign in den Hochphasen der Industrialisierung – in einem Umfeld sich ständig wandelnder Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick zurück in die Zukunft, um daraus Denkansätze für die Entwicklung neuartiger Angebote und erfolgreicher Geschäftsmodelle abzuleiten. Mit einem gemeinsamen Hintergrund im Industriedesign diskutieren im Ping-Pong der Ideen Manja Unger-Büttner, Philosophin mit Schwerpunkt Ethik, Metaethik und Technikphilosophie, freie Dozentin für Ethik, Designforschung sowie Design- und Medientheorie und aktiv in der Arbeitsgruppe Ethik.Design des VDID, und Thilo Schwer, Vorsitzender der Gesellschaft für Designgeschichte und Studiendekan für Interior Design an der AMD Akademie für Mode & Design in Wiesbaden, über produktive Bezugspunkte für Digital Design aus Designgeschichte und -philosophie.

T.: Im »Digital Design Manifest« bezieht sich der Arbeitskreis »Digital Design« der Bitkom auf das Bauhaus, das auf den ersten Blick wenig mit einem neuen Berufsbild in der Digitalwirtschaft gemeinsam zu haben scheint. Doch die Institution dient als Vorbild, um die Bedeutung von Gestaltung in Phasen des Umbruchs hervorzuheben. Denn am Bauhaus gelang es, die veränderten technischen Rahmenbedingungen in eine neue integrierende Gegenstandskultur zu überführen und gleichzeitig die Entwicklung neuer Berufsbilder einzuleiten. Auch im weiteren Verlauf der Argumentation verweisen die Autor:innen auf Materielles und Immaterielles, würdigen Analoges wie Digitales gleichermaßen (Bitkom 2024). Entsteht durch die Bezugnahme auf die Designgeschichte und die Gegenstandswelt eine Möglichkeit, die sich bisher getrennt entwickelnden Disziplinen Industriedesign und Softwaredesign zusammenzuführen? Interessanterweise gab es in beiden Disziplinen zeitversetzt Entwicklungsphasen, in denen zunächst die praktische Funktion bzw. die Nutzbarkeit sichergestellt werden musste, um auf dieser Basis auf der Maslowschen Pyramide nach oben zu klettern und soziale sowie emotionale Bedürfnisse im Entwurf zu adressieren. Sind die unterschiedlichen technologischen Ursprünge beider Disziplinen (Mechanik & Elektrotechnik bzw. Datenverarbeitung) in der heutigen Zeit obsolet geworden?

M.: Obsolet scheinen die genannten Unterschiede unmittelbar, sobald ein weit gefasster Begriff von Design bemüht wird. Schon 1909 hatte der Wiener Aphoristiker Karl Kraus notiert: »Gegen den Fluch des Gestaltenmüssens ist kein Kraut gewachsen.« Michael Erlhoff und Tim Marshall betonen im Wörterbuch Design (2008: 87), dass es »keine allgemein gültige Definition – eben für Design« geben könne und dass Design sich immer wieder neu begründen müsse. Davon ausgehend müssen diese eigentlich wesentlichen Unterschiede in den Entwicklungsphasen von (Industrie-) Design und Digital Design nicht zwingend als obsolet begründet werden. Zudem bleiben die jeweiligen Ursprünge zwischen analog/digital, materiell/immateriell bzw. mechanisch-elektrotechnisch/datenverarbeitend historisch relevant. Und nicht erst seit Odo Marquardt gilt: Zukunft braucht Herkunft.

Diese Art Gleichzeitigkeit von Herkunft und Zukunft zeigt ein Spannungsfeld an, dem weiter nachgegangen werden kann. Das Bild des Architekten, das im Digital Design Manifest bemüht wird, lässt sich bei der Philosophin Hannah Arendt wiederfinden, wenn sie am Beispiel des Hauses über das Denken schreibt:
„Das Wort 'Haus' [...] ist ein Wort, das nicht existieren könnte, wenn man nicht das Denken über das Beherbergt-Sein, Wohnen, Ein-Heim-Haben voraussetzte. Als Wort ist 'Haus' ein Kürzel für all diese Dinge, [...] ohne die das Denken mit seiner bezeichnenden Hurtigkeit [...] überhaupt nicht möglich wäre. Das Wort Haus ist wie ein gefrorener Gedanke, den das Denken auftauen muß, also, wenn man so will, zu entfrosten hat, wann immer man dessen ursprüngliche Bedeutung herausfinden möchte.“
(Arendt 1994: 141, i.O. kursiv)

Während diese Überlegung auch eher konservativ ausgelegt werden könnte, weist sie gleichzeitig auf die Relevanz des Neudenkens hin. Bisherige Vorstellungen müssen aufgetaut werden und die zugrundeliegenden Begriffe können ganz neue Perspektiven eröffnen. Daher stelle ich diesen Worten Arendts immer wieder ein Zitat des Star-Designers Philippe Starck zur Seite: »Wärme – aber ohne Heizkörper; Kälte, doch kein Kühlschrank.« Hannah Arendt selbst schloss aus ihrer Feststellung über den Begriff des Hauses schlicht:
„Wenn Sie einmal über den in ihm implizierten Sinn [...] nachgedacht haben, ist es unwahrscheinlich, daß Sie für Ihr eigenes Heim all das akzeptieren, was immer der Stil der Zeit vorschreiben mag.“ (ebd.: 144).

Ähnlich skeptische Denkansätze könnten die Ursprünge mancher gestalterischer wie auch technologischer Fortschritte gewesen sein – und sollten es auch für ein neuartiges Digital Design sein.

T.: Ein skeptischer, also kritisch zweifelnder Umgang mit Begriffen und den mit ihnen verknüpften Inhalten scheint mir für die kreative Arbeit und die Entwicklung von Neuem sehr produktiv. Gerne möchte ich einen Gedanken von David Gilbert aufnehmen, den er 2021 unter dem Titel »Design. Gestaltung mit Sinn für Ordnung, Gespür und einem neuen Holz« im Jahrbuch der Bitkom 2021 veröffentlichte. In seinen Ausführungen über die Bedeutung des Digital Designs und dessen Aufgaben führt er eine Materialmetapher ein, die digitale Daten mit dem Werkstoff Holz gleichsetzt. Daraus schließt er, dass Daten nicht nur als Werkstoff für neue Dinge verstanden werden dürften, sondern auch neue digital gestützte Produktionstechniken ins Kalkül einbezogen werden müssten. Aus designhistorischer Perspektive assoziiere ich dieses Bild direkt mit Michael Thonet, der durch die Erfindung des Bugholzverfahrens die Produktion von Sitzmöbeln revolutionierte (Hackenschmidt 2020). Seine Möbel waren nicht nur erheblich günstiger in der Produktion, sondern konnten demontiert nach Übersee verschickt werden und waren erheblich leichter als bisher bekannte Exemplare. Als Kaffeehausstuhl passte das Modell Nr. 14 genau in die Zeit. Denn das Möbelstück begünstigte ein agiles Sitzen, ein immer auf dem Sprung sein, und machte es damit im Kaffeehaus möglich, die Gesprächsrunden situativ zu verändern oder zu erweitern. Eine perfekte Entsprechung von Produktstil und Lebensstil, wie es Gert Selle in seinen Texten zu diesem Möbelstück herausarbeitet (Selle 2007). Die Bedeutung dieses Entwurfs geht aus meiner Sicht nochmals über das neue Produktionsverfahren hinaus. Denn Holz wurde nicht mehr, wie zuvor, handwerklich und mit Blick auf die Besonderheiten des aus dem Stamm herausgelösten Einzelstücks verwendet. Grundlage der Möbel waren vielmehr einheitliche Holzstäbe, die durch heißen Dampf flexibel und formbar wurden. Holz wurde von Thonet also nicht mehr als einzigartiges Naturmaterial verstanden, sondern als industrielles Halbzeug verwendet. Die von Gilbert formulierte Wirkkraft einer Kenntnis und Manipulation von Produktionsmaschinen kann damit um ein neues Verständnis von Material erweitert werden.

M.: Dieser Hinweis auf Thonets Bugholz als Halbzeug und die neuen Möglichkeiten des Formens kann auf eine immer wiederkehrende Formulierung bei Vilém Flusser verweisen, der den Begriff der Information gedeutet hat als In-Form-Bringen. Das Bugholz als Innovation ermöglicht einen zweistufigen Zugang zu diesem Informations-Begriff. Zunächst erfolgte offenbar eine Art In-Form-Bringen des Materials, auf das aufbauend eine ganz neue, innovative Art von Gestaltung folgen konnte – hier die der legendären Bugholz-Stühle mit ihrem inzwischen scheinbar überzeitlich gültigen funktionalen und ästhetischen Wert. Wie ließe sich dieser zweistufige Gestaltungsbegriff nun auf das Digitale übertragen?

Aufbauend auf die Arbeit des Ästhetikers Andreas Dorschel möchte ich auf die Idee des Philosophen Eduard von Hartmanns hinweisen, der im Jahr 1887 (S. 140) den Begriff des Spielraums in der Gestaltung betont hatte. Dorschel (2003: 62) fasst dies folgendermaßen zusammen:
„Zwecke, Technik und Material determinieren nicht die Gestaltung, sondern setzen der Wahl der Form lediglich Grenzen, innerhalb derer sie unterschiedlich ausfallen kann.“

Interessant ist, dass von Hartmann auch schon das Bugholz der »Wiener Stühle« (S. 141) als ein bemerkenswertes Material hervorgehoben hat. Dies allerdings nicht als in Form gebrachtes Material, aber bereits mit Blick auf die gestalterische Wirksamkeit dieser vorbearbeiteten Art Holz. Zwischen Zwecken, Technik und Material eröffnen sich also Spielräume, innerhalb derer Dinge, Schnittstellen, Oberflächen usw. immer ‚so oder anders‘ gestaltet werden können (Dorschel 2003: 62). Seitens der Ethik ist damit auch eine wichtige Verantwortungsfrage verbunden. In Dorschels Formulierung: »ästhetisch unangekränkelte Tassen, Stühle oder Lampen« entstehen nicht per Zufall, sondern sind immer »Resultat von Absichten geleiteten Tuns.« (Ebd.) Dies trifft auch auf gestalterische Entscheidungen in einem Digital Design zu.

Betonen möchte ich den Blick auf das Material selbst, hier also Thonets Halbzeug Bugholz. Denn es zeigt sich, dass das Experimentieren und Forschen mit Materialien seinerseits gestalterisch relevante Spielräume eröffnet. Diese Perspektive führt uns zurück auf die Idee Gilberts, im gestalterischen Umgang mit dem Digitalen von neuem Holz zu sprechen. Vielleicht kann der immer noch viel zu wenig bekannte Spielraum-Begriff Eduard von Hartmanns anregen, die gestalterische Relevanz des Digitalen selbst, der Daten usw., spezifischer in den Blick zu nehmen: Braucht es wirklich Metaphern, oder könnte man davon ausgehend auch direkt die (neuen?) Spielräume an sich diskutieren, die das Digitale als Material eröffnet? Freilich ist diese Überlegung nur aufgrund Gilberts Holz-Metapher entstanden, die bereits an sich einen ungemein erhellenden kommunikativen Wert hat.

T.: Eine ähnliche Denkfigur, wie die der Spielräume, entwickelt Annette Geiger in ihrer Publikation »Andersmöglichsein«. Im Kapitel »Mensch und Technik. Wer gestaltet wen?«, diskutiert sie, wie eine Ästhetik des Designs die Begegnung von Mensch und Technik beschreiben könne (Geiger 2018). Ihre These lautet, dass sich die ästhetische Selbstermöglichung des Menschen nur in Abgrenzung zum technischen Prinzip herausbilde. Denn vielfach werde im Design entweder nur die funktionale Brauchbarkeit im Sinne der Ergonomie oder die begehrenswerte Oberfläche honoriert. In Gedanken zur Gestaltung von Schnittstellen arbeitet sie heraus, dass digitale Medien unablässig mit unseren Körpern interagieren würden und die Sinne dabei in bisher nicht bekanntem Maße absorbierten. Die vordergründig als »Entlastungsmedien« konzipierten Dienste würden vielfach eher zu »Belastungsmedien«, wie sie am Beispiel der auf Selbstoptimierung abzielenden Gabel HAPIfork darstellt (Geiger 2018, 118). Diese erfasse Essgewohnheiten, wie die Geschwindigkeit der Nahrungsaufnahme mit maßlichen Parametern und überblendet dabei die sinnliche Komponente des Genießens und Sattwerdens mit einer statistischen Auswertung von Daten. Geigers Forderung lautet darum:
„Erst wenn an den Schnittstellen von Mensch und Maschine die Autonomie und Souveränität beider Seiten garantiert wird, kann sich das Humane gegen das Technische behaupten und umgekehrt“. (Geiger 2018: 116)

Wobei die Gegenüberstellung von Mensch und Technik alleine nicht ausreicht, um sinnvolle Proukte und Services zu entwerfen. Vielmehr muss man von einem Dreiklang aus Mensch, Technologie und Wirtschaft ausgehen, um tragfähige, machbare und erwünschte Lösungen zu entwickeln, wie es Kim Lauenroth in Anlehnung an Tim Browns Modell in »Change by Design« formuliert (Lauenroth 2024: 81ff). Dieser breite Blickwinkel halte dann im Prozess unablässig Fragen von Barrierefreiheit, Ethik, wirtschaftlich nachhaltigen Geschäftsmodellen oder dem Einsatz neuartiger Technologien u.v.m. simultan aktiv.

Vielleicht ist vor dem Hintergrund des Internets der Dinge (IOT) die physische Begegnung von Mensch und Technik ein gutes Bild, um zu gestalten – ähnlich wie Geiger die architektonische Erfahrung des Großrechners Zuse Z3 (1941) beschreibt (Geiger 2018: 114). Denn durch das körperliche Bewegen in der technischen Apparatur werden die Bedienenden nicht gemäß technischer Erfordernisse (oder im Fall des Konsums zusätzlich von Gewinnerzielungsabsichten) in vorgegebene Richtungen geleitet. Vielmehr können sie souverän agieren, also durch ein Umhergehen, Stehenbleiben, sich bücken etc. selbstbestimmt die Abfolgen des Erkundens, die Geschwindigkeit der Aufnahme von Informationen oder das Betrachten von Details wählen. Vor dem Hintergrund gestalterischer Lösungsansätze würde ich jedoch das Konzept für den Volltransistorcomputer Olivetti Elea 9003 (1959) von Ettore Sottsass als treffender anführen. Durch die raumgreifenden Dimensionen des Großrechners war es beim Hersteller klar, dass ein Designkonzept aus Perspektive der Innenarchitektur entwickelt werden muss. Denn auch beim technischen Gerät gilt es, räumliche Relationen, Verbindungen, Zwischenräume und Übergänge zu formieren. Dieses Beispiel verweist auf das Verständnis des italienischen Bürogeräteherstellers, das unternehmerische Handeln nicht nur vor dem Hintergrund technischer Anforderungen oder einer Nutzung zu verhandeln, sondern in allen Bereichen als einen Beitrag zur Kultur zu verstehen. Die Perspektive Mensch eröffnet im Dreiklang mit Wirtschaft und Technik also nicht nur individuelle Aspekte von Brauchbarkeit, sondern eröffnet ebenso den Blick auf die kulturelle Bedeutung der Dinge.

M.: Ganz ähnlich den bedeutenden Beispielen der Großrechner-Ära verhält es sich auch heute mit großen, teils begehbaren Maschinen und Systemen wie z. B. Werkzeugmaschinen für die ‚smart factory‘ bis hin zu modernsten Baumaschinen oder fahrerlosen Parksystemen. Deren Design erfordert ganz besondere Kombinationen gestalterischer Ansätze und Fähigkeiten – inklusive einer gewissen »Digital-Design- Expertise«, wie sie mein VDID Kollege Jochen Denzinger im Digital Design Jahrbuch 2019 genannt hat. Und so entwerfen z. B. die Mitglieder des Verbands Deutscher Industrie Designer (VDID) Maschinen, Interfaces sowie die dazugehörigen Einsatz- und Nutzungsszenarien – und zugleich auch (zumindest teilweise) die dafür notwendigen Zugriffe auf Materialen und das, was gemein hin ‚Natur‘ genannt wird. Damit leisten sie gleichzeitig auch Beiträge zur Kultur. Zudem können das Entwerfen und die Nutzung ebenfalls der Kultur zugezählt werden (wenn man den Wort-Ursprung vom lateinischen Verb 'colere' – pflegen, urbar machen – bedenkt). Darüber hinaus stellen spielerische Zugangsweisen zur Technikentwicklung einen bedeutenden Moment in der ganz frühen Entstehung dessen dar, was man heute Kultur nennt (homo ludens, Huizinga 1939). Visionäre Ideen scheinen häufig oder sogar immer unter einem gewissen Einfluss spielerischer Ansätze zu entstehen. Auch wesentliche Ursprünge der Digitalisierung sind in Kontexten zu finden, die als spielerisch und gleichzeitig visionär bezeichnet werden können. Man denke nur an die fast schon sprichwörtlichen Garagen des Silicon Valley. Hier zeigt sich zudem das tatsächlich Spielerische des Spiel-raum-Begriffs.

T.: Der Begriff ‚Vision‘ ist eng mit der Disziplin verknüpft – im Sinne einer Antizipation möglicher Zukünfte und einem Sicht- bzw. Erfahrbarmachen der darauf bezogenen Artefakte. Im Kontext von Unternehmen ist Design darum strategisch einzusetzen und nicht nur als auszuführende Disziplin eines detaillierten Lastenheftes. Denn Gestaltung entfaltet ihre Kraft vor allem durch die ‚Entdeckung des Ungesuchten‘, was auch als ‚Serendipität‘ bezeichnet wird. Klaus Klemp stellt dies am Beispiel des Entwicklungsprozesses beim Schreibgerätehersteller Lamy eindrücklich dar: Hier wären nicht Briefings der Ausgangspunkt gewesen, sondern es würden Leitplanken bzw. Designkorridore vorgegeben, welche nicht überschritten werden sollten. Darunter Forderungen, wie keinen Prunk, keine Wegwerfschreibgeräte, eine lange visuelle Haltbarkeit etc. (Klemp 2016: 8). Auf dieser Basis konnten die Designschaffenden Ideen frei entwickeln und ausarbeiten, um sie schließlich »am runden Tisch« auf Augenhöhe mit der Unternehmensleitung, der Technik und dem Marketing zu diskutieren.
Nochmals radikaler wurde der Innovationsgedanke von Ray und Charles Eames umgesetzt. So entwickelte deren Designstudio beispielsweise bei der Plywood- Group in einer 5-jährigen Entwicklungsphase nicht nur die Struktur und Form der Sitzmöbel, sondern auch den Produktionsprozess für die dreidimensionale Verformung von Sperrholz. Denn damals verfügte die Industrie nicht über das notwendige Wissen und die Werkzeuge für die Herstellung der Möbel (Kries/Kugler 2017: 45f). Daraus wird ersichtlich, dass Gestaltungsfreiheit und Zeit für Forschung sowie Iteration zu einer Entwurfshöhe und damit zu Wettbewerbsvorteilen führen kann, die weit über das Erfüllen von Anforderungskatalogen hinausgeht.

M.: Die Entdeckung des Ungesuchten kann in Bezug gesetzt werden zum Bild des Bahnens des Weges beim Gehen. Dieses Bild kann viele Vorgänge im Design umschreiben. Zu fassen scheint mir dies besonders unter dem Begriff des Explorativen. Das Antizipieren von Zukünften scheint ein inspirierendes Thema der heutigen Zeit zu sein. Utopie- Konferenzen und Begriffe wie (Design-)Futuring haben sich in gesellschaftlichen bzw. gestalterischen Diskursen etabliert. Als produktiv können sich hierbei die feinen Unterschiede zwischen dem Gestalten von Zukunftsvisionen selbst und der Wirkung dieses Gestaltungsansatzes erweisen: Indem Zukünfte entworfen werden, stellen sich Fragen darüber, was man in Zukunft wollen kann. Diese Fragen betreffen allerdings nicht nur den Entwurf an sich. Sie tangieren grundlegende menschliche und gesellschaftliche Bedürfnisse, Werte und damit letztlich auch die Ethik selbst. Zukunfts-Design, das Utopisieren, kann Fragen nach Werten für die Zukunft und für heute unterstützen. Entsprechend sollte Ethik nicht moralisierend oder normativ, als ein Aufstellen von Sollens-Aussagen, verstanden werden. Denn als spekulative Reflexion auf das Moralische sagt die Ethik nicht, „was das Gute in concreto ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen“ (Pieper 2017: 21 / VDID 2024).

Gestalterische Fähigkeiten können Überlegungen zu dieser Frage begleiten. Anhand ihrer spezifischen Fertigkeiten und Wissensbestände können Menschen im Digital Design spezifische Beiträge zu solchen explorativen Zugängen zur Ethik leisten. Ganz abgesehen also von ihren Kompetenzen für ein ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich wünschenswertes Design digitalisierter Lebenswelten an sich, sei abschließend die Relevanz der Profession eines Digital Designs für Fragen speziell zur Ethik der Digitalisierung betont – und zugleich die Rolle gestalterischer Beiträge im Rahmen der Digitalisierung für ein gutes Leben.

T.: Das Explorative verweist auf die Gestaltung vor der Gestaltung – also auf die strategische Dimension des Designs. Alex Buck hat in seinem jüngst erschienenen Buch »Brand is a Journey« herausgestellt, dass Wissen eine Vorbedingung des Entwurfs ist. Da die durch den Gestaltungsprozess entstehenden Artefakte in ‚alles andere‘ eingebettet sind, ist ein holistischer Blick vor der eigentlichen Tätigkeit wichtig (Buck 2025: 192ff). Um die damit verbundene hohe Komplexität schließlich handhaben zu können, schlägt er vor, sie zu strukturieren, unterschiedliche Kontexte aufzudecken und diese in Beziehung zueinander und zu den Entwurfszielen zu setzen. Relevante Komplexität, welche die Fragestellung betrifft, könne auf diese Weise von solcher getrennt werden, die sie nicht betrifft. Dieses strategische Rüstzeug versetze die Gestaltenden in die Lage, in einem fluiden Umfeld mit einem klar definierten Ziel zu agieren (Buck 2025 196f), mit Materialien, Verarbeitungsprinzipien, Prozessen und möglichen Verwendungsformen zu experimentieren und zu forschen.

In diesem Zusammenhang sollten, neben der geschichtlichen Herleitung dieser gestalterischen Kompetenzen, die hier angeführten Beispiele aus den eher ‚klassischeren‘ Feldern des Designs auch Einblicke geben in verschiedene Formen und Wege eines visionären Umgangs mit Transformation – ganz im Sinne eines ‚Zurück in die Zukunft‘.

Quellen:
Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz. Pieper, München 1994.
Bitkom e.V. (Hrsg.): Digital-Design-Manifest. Eine selbstbewusste Gestaltungsprofession ist der Schlüssel für eine erfolgreiche und nachhaltige Digitalisierung. Berlin 2024, [15.01.2025].
Buck, Alex: Brand is a Journey. Erinnerungen an eine erstaunliche Reise durch das Marken und Designuniversum, Stuttgart 2025.
Dorschel, Andreas: Gestaltung – zur Ästhetik des Brauchbaren. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2013.
Gilbert, David: »Design. Gestaltung mit Sinn für Ordnung, Gespür und einem neuen Holz.« In: Bitkom e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Digital Design 2021. Berlin 2024, [15.01.2025], S. 84–93.
Erlhoff, Michael / Marshall (Hrsg.): Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design. Birkhäuser, Basel 2008.
Geiger, Annette: Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs. Bielefeld, Transcript Verlag 2018.
Hackenschmidt, Sebastian: Bugholz, vielschichtig: Thonet und das moderne Möbeldesign. Basel, Birkhäuser 2020.
Huizinga, Johan Huizinga (Autor), Andreas Flitner (Hrsg.): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek (1939) 2009.
Klemp, Klaus: Thinking Tools : Design als Prozess – wie Schreibgeräte entstehen. Stuttgart, Avedition 2016.
Kraus, Karl: Sprüche und Widersprüche. Langen, München 1909.
Kries, Mateo / Kugler, Jolanthe: Eames furniture sourcebook. Weil am Rhein, Vitra Design Museum 2017.
Lauenroth, Kim: Basiswissen Digital Design: Konzepte und Werkzeuge für die ganzheitliche Gestaltung digitaler Lösungen und Systeme. Heidelberg, Dpunkt Verlag 2024.
Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Reclam, Ditzingen (2003) 2020.
Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik. 7. Aufl., Francke, Tübingen 2017. Selle, Gert: Design im Alltag: vom Thonetstuhl zum Mikrochip. Frankfurt / Main, Campus Verlag 2007.VDID (Verband Deutscher Industrie Designer e.V.) / Unger-Büttner, Manja: Ethik im Design – oder... »wie man dazu kommt, etwas gut zu beurteilen«. 9.6.2024, online unter: https://www.vdid.de/aktuelles/news/detail/2024-06-09-ethik-im-design- oder [14.1.2025]
Von Hartmann, Eduard: Philosophie des Schönen (Ästhetik Band I). Haacke, Leipzig 1887.

Prof. Dr. Thilo Schwer, AMD Akademie Mode und Design, Gesellschaft für Designgeschichte e.V.
Manja Unger-Büttner, Design/ Ethik, Verband Deutscher Industrie Designer e.V. (VDID)

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