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Die Schönheit des Designs

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  • 06.10.2024
  • Quelle: Redaktion

„In früheren Jahrhunderten umgab den Menschen hauptsächlich die Natur, und zu ihr entwickelte er eine poetische Beziehung. Heute umgibt ihn – am Arbeitsplatz, auf der Straße, zu Hause – Technik. Die künstliche Welt ist für ihn zu einer zweiten Natur geworden. Eine sehr schöne Natur, wie ich finde. Aber auch zu dieser künstlichen Umgebung will der Mensch eine poetische Beziehung entwickeln, nicht nur eine funktionelle. Die Antwort ist Design.“
(Andrea Branzi)

Als die VDID Redaktion mich bat, für diesen Newsletter einen Textbeitrag über den Mehrwert des Designs beizusteuern, kam mir sofort das obige Zitat von Andrea Branzi aus einem Interview, das im FAZ-Magazin veröffentlicht wurde, in den Sinn.

Meines Erachtens ist es tatsächlich so, dass die Qualität, die eine poetische Beziehung mit den, von Menschen gestaltete, zweite Natur ermöglicht, wesentlich zum Mehrwert des Designs beiträgt. Während ich über diesen Mehrwert nachdenke, sitze ich auf einem Stuhl. Das Sitzen auf Stühlen, so sagt es der Philosoph und Sitzpapst Hajo Eickhoff, ist eine Haltung der Askese und Teil der menschlichen Strategie, innerlich zur Ruhe zu kommen. Diese innere Ruhe brauche ich jetzt, um meine Gedanken zum Thema zu sortieren.

Plötzlich erschien vor meinem geistigen Auge der Stuhl als Objekt und es entstand die Idee, am Beispiel des Stuhls zu versuchen, den Mehrwert des Designs zu benennen.

Ein Stuhl, der so weit funktioniert, dass der Mensch gut darauf sitzen kann, ist noch lange kein guter Stuhl. Wir Menschen haben nämlich nicht nur Sitzfleisch, sondern auch einen Sitzgeist. Der Sitzgeist von wissenden, bewussten Menschen verlangt, dass auch die Idee, die zum Stuhl geführt hat, eine gute ist, und dass der Naturstoff schonend in Kulturstoff verwandelt wurde. Dieses Schonen des Naturstoffes ist Teil der Schönheit des Stuhls und gehört somit zum Mehrwert des Designs.

Der Sitzgeist verlang noch viel mehr. Zum Beispiel geeignete Materialien und Konstruktionen, stimmige Proportionen, Texturen und Farben sowie technische und visuelle Langlebigkeit und nicht zuletzt - am Ende des Stuhllebens - eine möglichst vollständige Rückführung der Materialien in den Kreislauf.

Wenn das alles der Fall ist, ist Schönheit integraler Bestandteil des Stuhls und Designer haben dann in einem co-kreativen Prozess - mit anderen am Entstehen des Stuhls beteiligten Akteur:innen - einen veritablen Mehrwert geschaffen. Wenn ich durch die Welt der Stühle gehe und mir die meisten Stühle, die mir im öffentlichen Raum, in Bürogebäuden, in der Gastronomie sowie in den Häuser der Gesundheit und in den Häusern der Bildung begegnen, vermisse ich diesen Mehrwert schmerzlich. Das Mittelmaß überwiegt und dieses Mittelmaß ist die Folge der einseitigen Unterordnung des gesamten Lebens unter die wirtschaftliche Rationalität. Übrigens nicht nur bei Stühlen, sondern in der kompletten Produktwelt.

Hinzu kommt, dass sich bewahrheitet hat, was Rainer Maria Rilke in seiner 7. Duineser Elegie als poetische Hypothese aufgestellt hat: Es sei das Schicksal der Welt, unsichtbar zu werden. Der Dichter meinte natürlich nicht, dass die Welt tatsächlich unsichtbar wird, sondern vielmehr, dass der Prozess im Menschen selbst stattfindet. Zu viele Menschen heute sehen nicht mehr die Schönheit der Natur, nicht mehr die Schönheit in den Mitmenschen und nicht mehr den Mehrwert, der in vielen schönen Dingen steckt.

„When your eyes are tired, the world is tired also.” – sagt der zeitgenössische Lyriker David Whyte und tatsächlich ist die Welt gerade sehr müde und es mangelt landauf, landab an Motivation. Motivationstreiber Nummer 1 ist die Qualität im Umfeld des Menschen. Entweder diese Qualität ist nicht vorhanden oder sie wird nicht gesehen und infolge fehlt vielen Menschen die Kraft, Bedeutung zu kreieren und somit Gesellschaft zu gestalten.

Jeder Mensch ist Gestalter:in. Gestalter:in des eigenen Lebens. Designer:innen sind von Beruf Gestalter:innen und deswegen haben sie eine besondere Verantwortung. Sie müssen dazu beitragen, dass die vielen müden Augen geöffnet werden und mehr Menschen den Mehrwert des Designs wahrnehmen, damit sich infolge die Wirkkraft des Mehrwerts entfalten kann und Motivation entsteht.

Wir Menschen gehören zur Spezies Homo Sapiens Sapiens. Das erste Sapiens steht für Geschmack, etwas gefällt einem oder eben nicht. Das zweite Sapiens steht für Wissen und Bewusstsein, für das Kennen von Kriterien für das Bedeutsam Finden von Mehrwert in der gestalteten Welt und für das in sich Erarbeiten einer Hierarchie von Entscheidungskriterien.

Bei der Aufbereitung und der Kommunikation dieses Wissens und beim Schaffen dieses Bewusstseins, müssen Designer:innen ihre Mitmenschen unterstützen, wenn sie möchten, dass der Mehrwert, der in ihren Wahrgebungen enthalten ist, gesehen wird, auch von den Auftraggebenden.

Auf die Frage, warum so unglaublich viele Auftraggebende den Mehrwert des Designs und ihre Schönheit nicht sehen, und infolge zulassen, dass Mittelmäßigkeit in die Welt kommt, gibt der Neoplatoniker Plotin (205-270) eine schöne Antwort:

„Das Auge hätte ja nie die Sonne gesehen, wenn es nicht von der Art und Form der Sonne wäre, und die Seele kann das Schöne nicht sehen, wenn sie selber nicht schön geworden ist.“

Schönheit ist eine verantwortungsvolle Antwort auf die Krisen der Gegenwart: Sie wird die Welt schonend in die Zukunft führen. Ja, es ist die Schönheit, die die Welt retten wird und zu diesem Rettenden gehört auch der Mehrwert des Designs.

Damit dieser Mehrwert wieder von mehr Menschen gesehen wird, haben der Philosoph Christoph Quarch und ich gerade ein Buch über die Schönheit gemacht. Einige Seiten aus diesem Buch illustrieren diesen Beitrag. Das Buch kann gerne für 70€ inkl. Versand direkt bei uns bestellt werden.

Jan Teunen, Schloss Johannisberg im September 2024

Prof. Jan Teunen (*1950) ist Cultural Capital Producer. Als Geschäftsführer der Teunen Konzepte GmbH unterstützt er seine Kunden darin, ihr kulturelles Kapital und ihre Wirtschaftskraft zu mehren. Er begleitet sie bei der Entfaltung nachhaltiger Unternehmenskulturen und trägt dazu bei, dass sie mit sich und der Welt im Einklang sind. Er entwickelt individuelle und kreative Konzepte für eine wirkungsvolle Kommunikation und begleitet ihre Realisierung in Zusammenarbeit mit erstklassigen Partnern.

Er ist Vorsitzender des Kuratoriums der Burg Giebichenstein / Kunsthochschule Halle und hat dort eine Professur für Designmarketing inne und ist Kuratoriumsmitglied des Beethoven-Hauses in Bonn.

Er ist Fellow und Mentor der Akademie für Potenzialentfaltung, Ehrenmitglied des GENISIS Institute for Social Innovation and Impact Strategies in Berlin. Außerdem gehört er zum Aufsichtsrat der Designagentur Fuenfwerken Wiesbaden / Berlin.

Jan Teunen ist verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder und lebt und arbeitet seit 1977 auf Schloss Johannisberg im Rheingau.

Impressionen

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    Jan Teunen — © Hans Schlegel
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    Aus dem Buch "Schönheit" s12-13 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
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    Aus dem Buch "Schönheit" s38-39 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
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    Aus dem Buch "Schönheit" s.168-169 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
  • Schoenheit 262 263 1600x800
    Aus dem Buch "Schönheit" s.262-2563 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
  • Schoenheit 270 271 1600x800
    Aus dem Buch "Schönheit" s.270-271 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
  • Schoenheit 344 345 1600x800
    Aus dem Buch "Schönheit" s.344-345 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken
  • Schoenheit 348 349 1600x800
    Aus dem Buch "Schönheit" s.348-349 — © Jan Teunen & Christoph Quarch / fünfwerken

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